Brauchen wir eine Digitalisierungsquote für den Aufsichtsrat?

Laut dem DESI-Index für digitale Wirtschaft und Gesellschaft (Digital Economy and Society) rangiert Deutschland auf Platz 13 in der EU. Der deutsche Standort spielt somit für die Digitalisierung keine tragende Rolle (mehr), meint Digitalexperte und Strategieberater Dr. Michael Fuchs (Foto). Er fordert in seinem Gastbeitrag erheblich mehr IT- und Digitalisierungs-Kompetenz in Aufsichtsräten und Vorständen, ein neues Rollenverständnis im Zusammenspiel zwischen Vorstand und Aufsichtsrat und notfalls eine Digitalisierungsquote.

 

Digitalkompetenz spielt im Aufsichtsrat eine untergeordnete Rolle

Dr. Michael FuchsZur Professionalisierung von Aufsichtsräten hat der Deutsche Corporate Governance Kodex bereits viel in Bewegung gesetzt. So wird etwa in Hinblick auf eine nachhaltige Unternehmensführung von Investorenseite zu Recht umfassendes Know-how zur Bewältigung der wesentlichen Herausforderungen eines Unternehmens verlangt, sowohl vom Vorstand als auch vom Aufsichtsrat. Speziell für die Herausforderungen des digitalen Zeitalters erscheint dies jedoch bislang als zu wenig: Noch immer spielt Digitalkompetenz für die Auswahl und Besetzung von Aufsichtsräten eine untergeordnete Rolle.

 

Ein moderner Aufsichtsrat ist Coach von Geschäftsmodellen

Wie aber sollen deutsche Unternehmen zukunftsfähig aufgestellt werden, wenn die Chancen und Risiken digitaler Technologien nicht aufgrund eigener Erfahrungen oder des eigenen Verständnisses entschieden werden können, sondern wenn dazu maßgeblich externe Expertise notwendig ist? Quasi traditionell werden Unternehmen zu sehr Shareholder-orientiert und zu wenig an ihrer Wettbewerbsfähigkeit orientiert geführt. Es stellt sich die Frage: Müssen sich moderne Aufsichtsräte nicht viel mehr als Coach für innovative Geschäftsmodellen verstehen und damit als Übersetzer und Förderer einer dazu notwendigen Digitalisierungsstrategien handeln? 

 

Immer mehr Herausforderungen in immer kürzerer Abfolge

Bitkom Attacken 2022
Quelle: Bitkom

Doch zunächst zu den Fakten: Wenn wir uns die aktuellen Herausforderungen der deutschen Führungskräfte vor Augen halten, kann uns leicht schwindelig werden: Klimawandel und Nachhaltigkeit, globalisierter Wettbewerb, Handelskriege, fragile Lieferketten, die Nachwirkungen der Coronakrise – etwa auf die Stabilität von Lieferketten, die Preisentwicklung von Ressourcen und dazu noch die Digitalisierung von Geschäftsmodellen haben im Tempo ihrer Abfolge enorm zugenommen. Genauso wie der Grad ihrer Bedeutung.

Zudem steigen die Cyber-Risiken exponentiell. Nicht wenige Führungskräfte halten ihr Unternehmen für sicher. Die Realität sieht leider anders aus. Nach den Zahlen von Bitkom entstanden Unternehmen der deutschen Wirtschaft allein in 2022 Schäden durch Dritte in Höhe von über 200 Mrd. Euro. Davon entfielen mehr als 70 Mrd. Euro nur auf Erpressungen mit gestohlenen Daten, verschlüsselten Systemen, Systemstillständen, korrupten Daten. Die Dunkelziffer ist sicherlich noch deutlich höher. Laut einer Bitkom Studie von 2022 wurden – allein im letzten Quartal in 2022 – durchschnittlich 1.168 Angriffe pro Woche auf ein Unternehmen durchgeführt. Die Liste der leidtragenden Unternehmen ist dabei genauso lang wie prominent, z.B. Bilstein Gruppe Bitmarck, Badische Stahlwerke, Rheinmetall oder SAF Holland, um nur einige zu nennen.

 

Mittelmaß entspricht nicht dem deutschen Selbstverständnis

DESI EU-Kommission
Quelle: EU-Kommission

Da darf es nicht verwundern, dass die Leistungen von Aufsichtsräten in der Öffentlichkeit sehr kritisch beäugt werden. Mehr Selbstkritik wird gefordert, vor allem aber mehr Sachverstand für die Digitalisierung. Betrachtet man das aktuelle Ranking nach dem DESI-Index (Digital Economy and Society) aus 2022, so findet sich Deutschland im Mittelfeld auf Rang 13 der 27 EU-Länder wieder. Der Index beurteilt die Dimensionen Humankapital, Infrastruktur, Integration von digitaler Technologie und den Ausbau der Digitalisierung im öffentlichen Bereich. Eine Platzierung auf Rang 13 spiegelt definitiv nicht das Selbstverständnis der deutschen Wirtschaft wider.

 

„Zweieinhalb“ Ausreißer sind keine Trendwende

Noch eklatanter bringt es die Rangliste der 500 wertvollsten Unternehmen weltweit auf den Punkt: In der Studie zum halbjährlichen Ranking 2022 der Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsgesellschaft EY, findet sich kein einziger deutscher Konzern unter den ersten 100. Es ist sicher positiv für Unternehmen wie Aktionäre, bedeutet jedoch noch lange keine Trendwende, dass 2023 mit SAP, Siemens und Linde „zweieinhalb“ Unternehmen wieder unter die ersten 100 gerutscht sind.

 

IT wird als Mittel zum Zweck betrachtet – nicht als Business- Enabler 

Nun wäre es einfach, die Schuld bei anderen zu suchen. Die Praxis der Zusammenarbeit zwischen Geschäftsführung und Aufsichtsrat lässt sich – als verantwortlicher Aufsichtsrat durchaus selbstkritisch betrachtet – auch so wahrnehmen: Eine oft (zu) formale und punktuelle Pflichterfüllung . Es sollte daher nicht Ziel sein, die Aufsichtsratssitzungen „irgendwie zu überleben“, wenn es um Digitalisierungsthemen geht. Die IT wird in diesen Gremien allzu oft nur als Mittel zum Zweck verstanden, aber eben nicht als „Enabler“ oder gar Impulsgeber für das gesamte Unternehmen. Demensprechend ist die Digitalisierung unterrepräsentiert, Verantwortung wird delegiert und Innovationen werden weder wirklich gefordert noch in irgendeiner Weise vorgelebt.

Tatsächlich prallen sogar Welten bezüglich Expertise, Kultur und der doch sehr eigenen Sprache der Digitalisierung aufeinander. Auch sind Visionen im Aufsichtsrat häufig nicht wirklich erwünscht. Und schließlich erfolgen Besetzungen des Gremiums nicht selten analog der Formel: (Zu) wenig IT-Kompetenz minus geringe Digitalisierungsaffinität plus gutes Netzwerk mal „Good Connections“ im Quadrat.

 

Nur die Hälfte der Aufsichtsräte besitzt Digitalexpertise 

Ein zweiter Faktencheck macht das Bild nicht besser. Laut einer Studie von Hertz Heads! International und dem Institut von Professor Thomas Hess an der LMU München aus 2022 besitzen aus Unternehmenssicht nur 50 Prozent der deutschen Aufsichtsräte Digitalexpertise. Man kann das auch anders formulieren: Jedes zweite Unternehmen hat keine digitale Expertise an Bord. Dies bezieht sich strukturell auf Unternehmen aus DAX, TecDAX, MDAX, aber auch auf Familienunternehmen. Mit Blick auf Führungspositionen sieht das Bild sogar noch dramatischer aus: Danach weisen lediglich 12 Prozent der in Aufsichtsräten tätigen Personen einen Technologie-Hintergrund wie zum Beispiel CIO, CSO, CDO etc. auf. Aufgrund der dargestellten Fakten und Erfahrungen, aber auch im Hinblick auf die Zukunftssicherheit für den Wirtschaftsstandort Deutschland: Eine klare Forderung nach deutlich mehr Digitalisierungskompetenz in Vorstandsetagen und vor allem in Aufsichtsratsgremien liegt auf der Hand.

Man darf gleichsam nicht verschweigen, dass es auch positive Beispiele gibt wie das einer Geschäftsführung eines eigentümergeführten, mittelständischen Unternehmens. Hier hat der Eigentümer die Rolle des Aufsichtsrats wahrgenommen und dabei – mitunter auf sehr nachhaltige Art – immer wieder die gleichen Fragen zur Zukunftsfähigkeit des Unternehmens an das Management adressiert. Und zwar so lange, bis er selbst die Themen durchdrungen hatte und sie anschließend für entscheidungsreif hielt. Entsprechend wurden die umsetzungsreifen Themen anschließend durch den Aufsichtsrat mit Herzblut überwacht.

 

Die Forderung: Digitalisierung als Produktionsfaktor verstehen 

Die Digitalisierung muss als entscheidender Produktionsfaktor verstanden werden. Mehr CIOs/CDOs müssen bei der Besetzung entsprechender Positionen Berücksichtigung finden. Die Digitalisierungs- und IT- Kompetenz muss systemisch im Unternehmen verankert werden. Eine rollierende Digitalisierungsagenda muss Teil der strategischen Planung jedes Unternehmens sein.

Auch das Rollenverständnis im Zusammenspiel zwischen Vorstand und Aufsichtsrat, das sich aus den Paragraphen §76 AktG, §78AktG, §90AktG bis §93AktG auf Vorstandsseite bzw. den Paragraphen §111AktG bzw. §112AktG auf Aufsichtsratsseite Aktiengesetz ergibt, muss optimiert werden – ergänzend zu entsprechenden formalen bzw. rechtlichen Vorgaben. Zum Rollenverständnis und zukunftsorientierten Arbeiten miteinander muss ein offenes und durchaus gegenseitiges „Challengen und Coachen“ gehören.

 

Eine Wunschliste für Aufsichtsräte und Unternehmen in Deutschland

Formuliert man die nötigen Konsequenzen als Wunschliste für Unternehmen in Deutschland, könnte sie so aussehen: eine Führungskultur, die mehr Offenheit statt Schaulaufen zum Ergebnis hat, die es zulässt und mehr noch fordert, dass Entscheider mehr Risiken eingehen können. Vor allem aber eine Kultur, die Chancen in den Fokus stellt und eine gesunde Fehlerkultur und Disruption als Führungsinstrument nutzt. Und schlussendlich ist es nicht verwerflich, von den Besten zu lernen, auch wenn diese in anderen Branchen verortet sind oder gar aus anderen Ländern oder Kulturen stammen.

Es wird dringend mehr Digitalisierungskompetenz auf Führungsebene benötigt – notfalls auch über eine Digitalisierungsquote bei der Besetzung.

 

Zum Autor:

Dr. Michael Fuchs, ehemals SAP AG, Accenture PLC, IDS Scheer AG, ist heute CEO der dr. Fuchs Senior Advisors GmbH, der dr. Fuchs Personalberatung KG und des IT-Onlinemagazins. Zudem ist er als Aufsichtsrat und strategischer Beirat tätig.

Quellen:

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